»FINGERFOOD«
eine brandneue und exklusive Halloween-Geschichte von Isabell Hemmrich
»Nein, was seht ihr unheimlich aus!« Mit einem freundlichen Lächeln lässt die alte Dame je einen Schokoriegel in die Beutel und Plastikeimer plumpsen, die die Kinder ihr entgegenstrecken. »Da bekomme ich ja richtig Angst.«
Sie lächelt noch immer, als die kleinen Monster die Terrassenstufen hinabstolpern und ihren Eltern, die in gebührendem Abstand auf dem Kiesweg im Vorgarten stehengeblieben sind, stolz ihre Ausbeute präsentieren. Die Alte nickt den Erwachsenen kurz zu und lässt ihren Blick dann die Straße hinaufwandern: Vor den Nachbarhäusern erhellen flackernde Fratzen mit breitem Grinsen den Oktoberabend. In ihrem unsteten Schein laufen kleine Grüppchen kostümierter Kinder lachend von Tür zu Tür.
Als die Augen der alten Dame an ihrem eigenen Gartentörchen hängenbleiben, runzelt sie die Stirn. Auch sie hatte einen Kürbis ausgehöhlt, ein Gesicht in die harte Schale geschnitzt und ihn mit einer Kerze bestückt, doch jetzt ist das Kürbislicht verschwunden. Sie schließt die Tür wieder, bekümmert darüber, dass die Wellen steigender Kleinkriminalität, von denen in den Nachrichten so oft die Rede ist, inzwischen offenbar sogar in diese ruhige Vorstadtsiedlung geschwappt sind. Doch sogleich verfliegt ihr Ärger wieder – wer wird denn auch einer leeren Gemüseschale nachtrauern? Morgen früh wäre das Ding sowieso auf dem Komposthaufen gelandet.
Kürbislaternen, was für ein netter Brauch, sinniert die alte Dame, während sie die große Bonbonniere aus Bleikristall zurück auf das Telefontischchen im Flur stellt. Schade, dass es so etwas in meiner Kindheit noch nicht gab.
Schwerfällig schlurft sie Richtung Wohnzimmer, wo auf dem alten Röhrenfernseher das Halloween-Programm der Öffentlich-Rechtlichen über die Mattscheibe flimmert. Seit dem späten Nachmittag reiht sich ein Horrorklassiker der Universal Studios
an den nächsten. Die alte Dame liebt diese schwarz-weißen Filmperlen, die Reminiszenzen an ihre Jugend in ihr aufleben lassen. Nicht dass sie damals oft ins Kino hätte gehen können; dafür war das Geld zu knapp.
Nun, immerhin hat Mutti uns immer satt bekommen, denkt sie, während sie sich ächzend auf das Brokatsofa mit den gehäkelten Zierdeckchen auf der Lehne sinken lässt. Und Kinder brauchen schließlich keinen Luxus zum Glücklichsein.
Bela Lugosi trägt gerade sein auserkorenes Opfer, eine blondierte junge Frau im weißen Nachthemd, eine breite, von Spinnweben umflorte Freitreppe hinab. Ohne die Augen hinter den dicken Brillengläsern auch nur eine Sekunde vom Bildschirm abzuwenden, greift die alte Dame nach der Schale mit Knabberzeug, die auf dem nierenförmigen Couchtisch bereitsteht – doch noch bevor sich ihre Dritten respektive Graf Draculas Vampirhauer genüsslich in den jeweils anvisierten Köstlichkeiten versenken können, klingelt es erneut.
Mühsam rappelt sich die alte Dame hoch und trottet zur Haustür. Als sie diese öffnet, schallt ihr das vertraute »Süßes, sonst gibt’s Saures!« aus fröhlichen Kinderkehlen entgegen. Eine ganze Schar Jungen und Mädchen drängt sich im Schein des Verandalichts und schaut ihr mit erwartungsvollen Gesichtern entgegen.
»Was für hübsche Kostüme!«, sagt sie bewundernd und mustert die Aufmachung der kleinen Superhelden, Piraten und Gespenster eingehend. Ungeduldig schiebend und schubsend – jeder will als Erster an die Reihe kommen – recken diese ihre Süßigkeitenbehälter in die Höhe. »Aber, aber«, lächelt die alte Dame, »es ist doch genug für alle da.«
Sorgsam darauf bedacht, keinen zu übergehen, verteilt sie das Naschwerk an die Kinder. Einem kleinen blonden Mädchen im rosa Prinzessinnenkleid, das ganz hinten steht und offenbar um einige Jahre jünger ist als die Rabauken, mit denen es unterwegs ist, lässt sie heimlich noch einen zweiten Schokoriegel in das pinke Glitzertäschchen plumpsen. »Du bist ja eine süße Maus.« Liebevoll tätschelt sie das runde Pausbäckchen.
Gerade als sie die Tür schließen will, tritt ein weiterer kleiner Geist aus dem Schatten des Vordachs heraus nach vorn. »Na sowas, da hätte ich dich doch fast übersehen! Entschuldige bitte.«
Das Laken mit den zwei nachlässig ausgeschnittenen Augenlöchern, das den schmalen Körper umhüllt, sieht schon etwas schmuddelig aus, und statt der kürbisförmigen Eimerchen und mit Happy-Halloween-Schriftzug, schwarzen Fledermäusen oder Jack-O’Lantern-Gesichtern verzierten Filztaschen, die seit Wochen die Aktionsregale des örtlichen Supermarkts füllen, hält ihr das Gespenst eine schlichte Plastiktüte hin.
Die Eltern von dem armen Ding haben wohl nicht viel Geld, geht es der Alten durch den Kopf, und sie steckt auch ihm einen zweiten Karamellriegel zu, bevor sie die Tür wieder zuzieht. Die voluminöse Bonbonniere ist jetzt fast leer.
In der Küche wirft die alte Dame einen Blick in den Kochtopf, in dem die Innereien der verschwundenen Kürbislaterne vor sich hin blubbern, bevor sie in der gut gefüllten Speisekammer nach einem neuen Päckchen mit Naschzeug kramt. Angenehm warm ist es hier drin. Sie bedenkt den alten Kanonenofen mit einem liebevollen Blick. Zentralheizung, pah! Wer braucht sowas schon? Die könnte mit der wohlig-knisternden Behaglichkeit eines schönen Holzfeuers doch niemals mithalten.
Vorsorglich legt sie noch ein Scheit nach. Die Nächte sind kalt im Oktober. Dann greift sie wieder nach dem Süßigkeitenbeutel. Sie hat die Zellophanverpackung noch gar nicht aufgerissen, da klingelt es schon wieder. Draußen steht der schmuddelige kleine Geist von eben.
»Na, sag mal, dich kenn ich doch irgendwoher«, schmunzelt die alte Dame und lässt auch noch die letzten beiden Schokoriegel aus der Kristallschale in die Plastiktüte fallen. »Lass es dir schmecken«, sagt sie gutmütig und will die Tür schließen. Aber das Schloss ist noch gar nicht richtig eingerastet, da wird abermals der Klingelknopf betätigt.
Erstaunt drückt die Alte die Eingangstür wieder auf: Noch einmal reckt das Gespenst fordernd den Plastikbeutel in die Höhe. Sie runzelt die Stirn. Ein bisschen unverschämt kommt ihr der kleine Racker ja schon vor. Aber was soll’s! Schließlich ist heute Halloween, und wer weiß, wann das arme Kind wieder etwas Süßes zwischen die Zähne bekommt. Innerlich schüttelt sie den Kopf über die Mutter, die ihren Sprössling in so einer schäbigen Kostümierung durch die Straßen laufen lässt. Sicher, Kinder benötigen keinen Luxus, aber das … Schließlich braucht es ja nicht unbedingt viel Geld, um eine nette Verkleidung zu basteln, ein bisschen Kreativität und handwerkliches Geschick reichen da völlig aus.
Schon will die alte Dame den neuen Beutel Schokoriegel aus der Küche holen, um dem hartnäckigen Geist zum dritten Mal süßen Tribut zu entrichten, da beschließen die grauen Wolken, die den ganzen Tag den Himmel verdüstert haben, diese dunkle Abendstunde zu nutzen, um sich endlich mal richtig auszuweinen. Einzelne schwere Tropfen klatschen auf den Kies, steigern sich innerhalb von Sekunden zu konstantem Prasseln. Die Alte schaut sich aufmerksam um, aber von einem erwachsenen Begleiter des kleinen Gespenstes ist weit und breit nichts zu sehen. Wer lässt denn sein Kind um diese Uhrzeit mutterseelenallein durch die Straßen laufen, Halloween hin oder her. Abermals runzelt sie die Stirn. Ganz schön verantwortungslos!
Unverwandt strecken ihr die beiden vom Laken verhüllten Händchen die Plastiktüte entgegen. Wieder betrachtet die alte Dame das armselige Kostüm und denkt an die Kürbissuppe, die auf dem Herd vor sich hin köchelt. Warum eigentlich nicht …
»Sag mal, mein Kleines«, wendet sie sich an das Kind, »du kannst doch nicht nur Süßigkeiten essen. Warum wärmst du dich nicht ein bisschen bei mir auf und isst einen schönen Teller heiße Suppe mit mir? Das tut gut bei diesem Schmuddelwetter.«
Der Geist bleibt stumm, tritt aber durch die einladend aufgehaltene Tür.
»Weißt du, als ich klein war – nach dem Krieg war das –, da hatten wir oft nicht viel zu essen, und auch die Kohlen zum Heizen waren knapp«, erzählt die alte Dame, während sie ihren Gast in die Küche geleitet. »Aber eine schöne kräftige Fleischbrühe, die hat meine Mutter im Winter trotzdem regelmäßig auf den Tisch gezaubert. Die wärmt von innen, hat sie immer gesagt. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie gut uns Kindern das geschmeckt hat, wenn wir mit rotgefrorenen Gesichtern vor den dampfenden Tellern saßen und mit vor Kälte steifen Fingern die heiße Suppe in uns hinein gelöffelt haben.«
Noch immer dringt kein Laut unter dem Kostüm hervor. Im Licht der Hängelampe mustert die Alte ihren kleinen Besucher eingehend, und jetzt wirkt das Laken nicht mehr nur schmuddelig, sondern richtiggehend dreckig: Rostrote Flecken bilden auf dem verschlissenen Stoff ein Rorschachmuster, dessen Bedeutung jedem Psychologen die Haare zu Berge stehen lassen würde. Zudem verbreitet das schmutzige Textil einen äußerst unangenehmen Geruch, der sogar die Aromen von Muskatnuss und Holzrauch überlagert, von denen die kleine Küche erfüllt ist. Mit gekräuselter Nase wendet sich die alte Dame dem Herd zu.
Ein leises Scharren zeigt an, dass der kleine Geist einen Stuhl zurückzieht, um am Tisch Platz zu nehmen.
Gut so, denkt die alte Dame, während sie sich streckt, um einen Suppenteller aus dem Hängeschrank zu nehmen. Zwei großzügige Schöpflöffel des cremigen Topfinhalts landen in der Vertiefung.
»Hier, bitte schön. Lass es dir schmecken.« Dichte Dampfschwaden steigen aus dem Teller auf, den die Alte vorsichtig vor ihrem Gast auf der rot-weiß-karierten Tischdecke absetzt. »Zum Essen solltest du die Verkleidung wohl besser abnehmen«, meint sie freundlich, während sie einen hübschen Silberlöffel dazulegt.
Stumm starrt das Kind auf den gekräuselten Dampf, seine Augen sind hinter den ausgefransten Schlitzen nicht zu erkennen. Die verhüllten Händchen klammern sich an der Plastiktüte fest, die es auf dem Schoß hält, machen keine Anstalten, nach dem Löffel zu greifen.
Ist wohl schüchtern, das arme Ding …
»Ich geh nur mal eben in den Keller, was holen«, sagt die alte Dame und schlurft Richtung Küchentür. »Derweil kannst du in Ruhe essen.«
Als zu hören ist, wie ihre schwerfälligen Schritte die Kellertreppe hinabpoltern, lässt das Gespenst die Tüte los, die raschelnd zu Boden rutscht. Eine Hand taucht unter dem Rand des fleckigen Stoffes auf. Das heißt, der Begriff »Hand« ist vielleicht nicht ganz korrekt, zumindest nicht, wenn man darunter ein von Haut umhülltes Gebilde mit fünf beweglichen Anhängseln versteht …
***
Die Kellerstiege ist schmal und steil. Nur nicht hetzen. Hab nicht die geringste Lust, mir den Hals zu brechen, denkt die alte Dame, während sie vorsichtig Stufe um Stufe nimmt. Als sie endlich unten am Treppenabsatz angekommen ist, schnauft sie erst einmal tief durch. Puh, das wäre geschafft!
Ein kalter Hauch streift ihr Gesicht. Rasch tritt die alte Dame zu dem offenen Kippfenster, um es zu schließen. Seltsam, ich hätte schwören können, dass ich es zugemacht habe. Schlimm, diese Vergesslichkeit im Alter …
Dann blickt sie sich suchend in dem dämmrigen Gelass um. Der schwache Schein einer einzelnen verstaubten Glühbirne fällt auf Kisten voller Plunder und Regale mit Eingemachtem, zwischen denen dichte Schatten nisten. Wenn sich dort nun jemand verstecken würde …
Kurz beschleicht die Alte ein mulmiges Gefühl, doch dann schüttelt sie den Kopf über diese kindische Anwandlung. Offenbar hat der ganze Grusel-Tamtam ihre Nerven ein wenig angegriffen.
Sie lächelt über ihre ins Kraut schießende Fantasie und tritt an eines der Regalbretter ganz hinten, wo die Schatten am dichtesten sind. Dort tastet sie zwischen Konservendosen und Marmeladengläsern umher. Ihre Augen sind schon lange nicht mehr die besten, in diesem Dämmerdunkel ist sie fast blind. Sie rückt ihre Brille zurecht. Wo hab ich denn nur …
In diesem Moment fällt der Blick der alten Dame auf etwas Ungewöhnliches. Irritiert zieht sie die Stirn kraus. Das Haus ist alt, der Untergrund besteht nur aus gestampftem Lehm. Sie kann nichts Genaues erkennen, eigentlich bloß einen dunklen Umriss, doch sie könnte schwören, dass dort in der Kellerecke ein Loch im Boden klafft. Die Alte schluckt schwer.
Unsinn!,
schilt sie sich innerlich. Was denkst du dir denn? Dass jemand hier unten einbricht, um deinen Keller umzugraben?
Ein heiseres Kichern dringt aus ihrer Kehle. Es sollte befreiend wirken, klingt aber unecht und gezwungen. Rasch verstummt sie wieder. Das mulmige Gefühl ist zurück, stärker als zuvor.
Die alte Dame bräuchte bloß ein paar Schritte zu machen, den pantoffelbewehrten Fuß auszustrecken und damit über den Rand des vermeintlichen Loches zu fahren, um Gewissheit zu haben, ob sich dort tatsächlich – entgegen aller Logik – eine offene Grube im Lehmboden ihres Kellers befindet. Aber eine merkwürdige Scheu hält sie davon ab.
Ein wenig zu hastig tritt die alte Dame hinter dem Regal hervor. Dabei stolpert sie über ein Hindernis. Gerade noch rechtzeitig kann sie sich an dem stabilen Holzgestell abstützen und so das Gleichgewicht wiederfinden. Ihr Herz klopft zum Zerspringen. Nachdem sie ein paar Mal tief ein- und ausgeatmet hat, dreht sie sich um und lässt ihren Blick auf der Suche nach dem Übeltäter über den Boden wandern.
Ein Holzscheit liegt mitten im Weg. Ächzend bückt sie sich und hebt es auf. Dann schlurft sie zu dem Brennholzstoß an der Wand, um das Scheit auf dem ordentlich aufgeschichteten Stapel abzulegen.
Endlich erblickt die alte Dame den gesuchten Gegenstand. Sie atmet erleichtert auf, ist froh, den Keller wieder verlassen zu können. Irgendwie ist es ihr hier unten heute Abend nicht geheuer. Außerdem muss sie sich ja um ihren kleinen Gast kümmern. So schnell, wie es ihr die müden Knochen erlauben, erklimmt sie die steilen Stufen. Ganz schön schwer, das Ding, ist mir früher nie aufgefallen. Ach ja, man wird halt nicht jünger …
Als die alte Dame am oberen Treppenabsatz keuchend innehält, zieht es ihre Augen wie ein Magnet noch einmal zu der dunklen Kellerecke, wo ihre übereifrige Fantasie ihr diesen beunruhigenden Streich gespielt hat. Doch das Regal mit Eingemachtem versperrt ihr die Sicht. Es wird wirklich Zeit, dass sie dort unten mal eine hellere Glühbirne anbringt. Ist ja kein Wunder, dass einem der Verstand Dinge vorgaukelt, die gar nicht da sind, wenn man kaum die Hand vor Augen erkennen kann.
Zurück in der Küche, sieht die alte Dame erstaunt, dass der kleine Geist noch immer unbeweglich am Tisch verharrt. Ist das arme Ding etwa vor Erschöpfung eingeschlafen?
Leise tritt die alte Dame hinter das Kind. Über seine Schulter hinweg kann sie sehen, dass es die Suppe nicht angerührt hat. Die Dampfschwaden sind verflogen, eine unappetitliche Haut hat sich auf dem orangefarbenen Spiegel gebildet.
Nun, wer nicht will, der hat schon,
denkt die Alte, während sie die schwere Axt hochwuchtet und mit einem gezielten Schlag auf den Schädel des Kindes niedersausen lässt. Zischend durchschneidet das Blatt die Luft, doch statt sich mit einem knirschenden Schmatzlaut in Haut und Knochen zu graben, schmettert es den Kopf wie einen Baseball von den schmalen Schultern. Dieser reißt das Laken mit sich, fliegt mit Schwung durch die Küche und landet in einem Wirbel aus fleckigem Stoff vor dem Ofen.
Perplex starrt die alte Dame auf den halbverwesten Halsstumpf, in dem sich ein dickes Knäuel wimmelnder weißer Maden durchs zersetzende Gewebe frisst. Wie ein surreales Artefakt ragen die Wirbelknochen aus dem modrigen Fleisch hervor. Was hat das zu bedeuten?
Noch immer unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, wendet sich die Alte langsam dem abgeschlagenen Kopf zu, macht ein paar zögerliche Schritte in seine Richtung. Nach Luft schnappend hält sie inne: Inmitten der schmutzigen Stofffalten, ein höhnisches Grinsen im orangefarbenen Gesicht, ruht die von ihr gemachte Kürbislaterne.
Ein manisches Zittern erfasst die alte Dame, versetzt ihren ganzen gebrechlichen Körper in Schwingung. Die Axt entgleitet ihren schweißfeuchten Fingern und fällt polternd zu Boden. In diesem Moment lässt ein dumpfes Scharren sie zum Küchentisch herumfahren.
Der kopflose Kinderkörper hat den Stuhl zurückgeschoben. Jetzt steht er auf und wendet sich ihr zu! Oh, welch ein Anblick bietet sich den weit aufgerissenen Augen der alten Dame: Nun, da das Laken fort ist, erkennt sie, dass das Wesen – was auch immer es sein mag – darunter splitterfasernackt ist, nur die Füße stecken in lehmverkrusteten Turnschuhen. Und der Ausdruck »splitterfasernackt« ist durchaus wörtlich zu nehmen, denn spitze Knochensplitter und zerfetzte Gewebefasern bilden ein schreckliches Mosaik des Grauens an diesem grässlich verstümmelten Kadaver, der einmal der Körper eines Kindes war. Nur noch vereinzelt haften vermodernde Fleischreste an dem kleinen Gerippe, bräunlich-rote Inseln, in denen schmatzendes Ungeziefer rumort; an den meisten Stellen glänzt blankes Gebein elfenbeinfarben im warmen Licht der Küchenlampe.
Knirschend und knackend rotieren die morschen Gelenke, als die Kreatur sich in Bewegung setzt und auf die alte Dame zu torkelt. Fingerlose, nur noch aus den abgenagten Mittelhandknochen bestehende Hände strecken sich ihr entgegen …
Panisch weicht die Alte zurück, stolpert über die Schwelle der Küchentür, taumelt rückwärtsgehend durch den Flur. Hinter ihr gähnt die offene Kellertür wie ein hungriges Maul, doch die Augen der alten Dame sind starr auf die untote Kreatur gerichtet, die sie langsam, aber unerbittlich vor sich hertreibt.
»Du musst das verstehen«, stößt sie heiser hervor. »Wenn man erst einmal auf den Geschmack gekommen ist …« Sie schluckt. »Nicht meine Schuld … wirklich … Eure Eltern hätten eben besser auf euch achtgeben müssen! Ich wollte nur … Ich hab das so von meiner Mutter gelernt, ich konnte doch nicht ahnen …« Ihr Gestammel schraubt sich zu einem schrillen Kreischen empor: »Ihr wart einfach alle so lecker!«
Kurz bevor sie ins Dunkel stürzt, wirft die Alte einen Blick über die Schulter. Auf der Kellertreppe drängen sich weitere kopflose Wesen in unterschiedlichen Stadien des Verfalls. Keines von ihnen ist größer als ein zehnjähriges Kind. Die alte Dame braucht ihre Gesichter nicht zu sehen, um sich an sie zu erinnern.
***
Erst kurz vor Weihnachten wird die Leiche der alten Dame gefunden. Den Nachbarn ist es nach knapp zwei Monaten, in denen kein Rauch aus dem Kamin in den Winterhimmel aufstieg, doch langsam merkwürdig erschienen, dass sie die äußerst zurückgezogen lebende, aber immer freundlich grüßende Seniorin überhaupt nicht mehr zu Gesicht bekommen haben. Trotz der Kälte ist die Verwesung nach so langer Zeit weit fortgeschritten, und beim Abtransport des Leichnams löst sich der Kopf vom Körper, kullert wie eine grässliche Bowlingkugel über den Kellerboden und fällt in eine Grube im lehmigen Grund, für deren Vorhandensein niemandem eine schlüssige Erklärung einfallen will. Im Haus herrscht ein Gestank, der die gemütlich eingerichteten Zimmer noch monatelang mit der erstickenden Atmosphäre eines mittelalterlichen Seuchenhauses erfüllen wird.
Genickbruch, konstatiert der zuständige Gerichtsmediziner. Keine Anzeichen deuten auf Fremdeinwirkung hin, wahrscheinlich ist die alte Dame einfach unglücklich gestürzt. Eigentlich also ein ganz klarer Fall. Da sind nur zwei Dinge, die den ermittelnden Polizisten Rätsel aufgeben und diesen erfahrenen Beamten einen Schauer nackten Grauens über den Rücken jagen: zum einen das blutbefleckte Laken, das zusammen mit den verschimmelten Überresten einer Kürbislaterne vor dem Ofen in der Küche gefunden wird und auf dem die DNA eines seit Monaten vermissten Kindes aus der Nachbarschaft festgestellt werden kann. Und zum anderen die Gläser mit Eingemachtem im Keller, die ganz offensichtlich menschliche Überreste enthalten.
Und dann ist da noch die Schale auf dem Wohnzimmertisch. Was darin liegt – gleich einem perversen Knabbersnack –, ist inzwischen schon ziemlich vergammelt, aber nichtsdestotrotz immer noch klar und deutlich zu erkennen: zehn frittierte Kinderfinger …
-ENDE-
© Text: Isabell Hemmrich (2021)
(Erstveröffentlichung exklusiv für die Leser von Grey Gull Publications)